Lateinamerika auf dem Weg nach links: Vom Progresismo zur sozialökologischen Transformation?*

Ulrich Brand und Kristina Dietz

Wenn Chiles neuer Präsident Gabriel Boric vom linken Wahlbündnis Apruebo Diginidad am 11. März die Präsidentschaft von seinem rechtskonservativen Amtsvorgänger Sebastián Piñera übernimmt, könnte das den Beginn einer neuen Linkswende in Lateinamerika markieren, und das in jenen Ländern, die traditionell oder zumindest in den vergangenen Jahren von rechts regiert wurden. Seit den massiven Protesten, die sich im Oktober 2019 an der Erhöhung der Ticketpreise für die Metro entzündeten, hat sich in dem südamerikanischen Land eine kaum vorhersehbare politische Dynamik entfaltet, die das neoliberale Gesellschaftsmodell grundlegend in Frage stellt. Und auch in Kolumbien, wo es im vergangenen Jahr zu massiven Protesten gegen die Regierung des rechten Präsidenten Iván Duque kam, könnte sich der Unmut großer Teile der Bevölkerung in den für März und Mai anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in einem Sieg der Linken niederschlagen. Schließlich macht sich auch in Brasilien die Linke berechtigte Hoffnung, bei den Wahlen im Oktober den Alptraum der Regentschaft des rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaros zu beenden.

Welchen Herausforderungen aber sieht sich linke Politik unter Bedingungen der (Post-) Pan-demie gegenüber, die geprägt sind von ökonomischer Krise, wachsender Ungleichheiten und Armut? Wie bekämpft sie die zunehmende Reichtumskonzentration, die Ausbeutung und Zerstörung von Natur, aber auch die strukturellen Abhängigkeiten vom Weltmarkt? Fest steht: Welche Antworten die Regierungen und die sie tragenden Kräfte auch immer geben, wird weit über die Länder der aktuellen Linkswende hinaus von Bedeutung sein.

Chile: Der Beginn einer neuen Epoche

Mit der Wahl Boric‘ in Chile wurde das seit dem Ende der Pinochet-Diktatur ab 1990 herrschende System von an der Macht alternierender Mitte-Links- bzw. Mitte-Rechts- Regierungen endgültig abgewählt. Kein Kandidat der beiden Formationen kam bei der jüngsten Präsidentschaftswahl in die zweite Runde. Den überraschend deutlichen Wahlsieg über seinen rechtsextremen Kontrahenten José Antonio Kast – Boric erzielte knapp 56 Prozent der abgegebenen Stimmen, Kast 44 Prozent – verdankt der 36jährige ehemalige Studierendenaktivist und Abgeordnete vor allem den Jungen, Frauen und einer ungewohnt starken Wahlbeteiligung in den ärmeren Vierteln und Regionen. Dabei spielte zum einen die starke Mobilisierung der feministischen Bewegungen eine große Rolle. Zum anderen, so analysiert es die chilenische Soziologin Pierina Ferretti, verdankt Boric sein Ergebnis aber auch den traditionell nicht-organisierten Teilen der Bevölkerung, die sich im Zuge der Aufstände Ende 2019 politisierten und oft gar nicht explizit als links verstehen. Zudem verstanden viele ihre Wahl auch als eine gegen den Pinochet- und Bolsonaro-Bewunderer Kast.[1] Daneben suchte sich Boric aber auch die Unterstützung liberaler Teile des Establishments, etwa von Ex-Präsidentin Michelle Bachelet.

Sein Programm ist in vielen Teilen klassisch sozialdemokratisch: Die durchprivatisierten Systeme für Bildung, Gesundheit und Renten sollen reformiert und stärker öffentlich organsiert werden. Es finden sich aber auch viele Forderungen der feministischen und ökologischen Bewegungen in dem Programm wieder. Weil zu dessen Umsetzung mächtige privatwirtschaftliche Interessen angegangen werden müssen, ist es ist im neoliberalisierten Chile geradezu radikal.

In dem vermeintlichen „Wirtschaftswunderland“ ist die Macht der Eliten tagtäglich zu spüren. Ein Prozent der chilenischen Bevölkerung verfügt über ein Drittel des Vermögens, während viele Familien von 400 bis 500 Dollar im Monat leben müssen, was in etwa der monatlichen Studiengebühr an vielen Hochschulen entspricht. Gleichzeitig zeigt das relativ gute Abschneiden von Boric‘ Gegenkandidat Kast jedoch auch, wie gespalten die Gesellschaft ist. Fast 60 Prozent der über 70jährigen – und damit jene, die die Militärdiktatur zwischen 1973 und 1990 miterlebt haben – votierten für Kast.

Das relativ starke Abschneiden der Rechten wird Boric das Regieren nicht gerade erleichtern: Zwar gibt es eine knappe linke Mehrheit im Abgeordnetenhaus, im Senat aber dominieren rechte Parteien.

Ungeachtet der zu erwartenden Widerstände lässt Boric‘ Kabinett, dem erstmalig in der Geschichte Chiles mehr Frauen als Männer angehören, jedoch auf ein dezidiert linkes Projekt schließen, das durchaus Konflikte mit mächtigen Interessengruppen einzugehen bereit ist. So wird etwa die prominente Naturwissenschaftlerin und Mitglied des Weltklimarates IPCC, Maisa Rojas, Umweltministerin und die Enkelin des ehemaligen sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, den die Militärs 1973 aus dem Amt geputscht hatten, Maya Fernández Allende, Verteidigungsministerin.

Progressive Impulse kommen in Chile zudem von der Verfassunggebenden Versammlung, die sich im Juli vergangenen Jahres konstituierte und innerhalb eines Jahres eine neue Verfassung ausarbeiten soll.[2] Alle 155 Mitglieder des Konvents wurden im Mai 2021 direkt gewählt: Die politische Rechte verfügt in ihr, anders als sie es sich erhofft hatte, über keine Sperrminorität. Stattdessen wurden viele unabhängige Kandidat*innen in die Versammlung gewählt. Präsidentin des Konvents ist mit Elisa Loncón eine Angehörige der Mapuche-Indigenen – auch das vor wenigen Jahren schlicht undenkbar in Chile. Die sich in ihr abzeichnenden Vorschläge für eine neue Verfassung muten geradezu revolutionär an: Demnach könnten Bildung, Gesundheit und Renten in Chile bald zu allgemeinen Rechten werden, Chile sich als „plurinationaler Staat“ konstituieren, die Rechte der Natur in der Verfassung festgeschrieben und ein gemischtes Wirtschaftssystem errichtet werden.

Für den Erfolg der Versammlung ist der Wahlsieg Borics von enormer Bedeutung: Anders als Kast wird er sich nicht gegen deren Ergebnisse stellen und die notwendige Zurückhaltung gegenüber der Legislative akzeptieren.

Kolumbien vor der Linkswende?

Auch in Kolumbien steht möglicherweise ein historischer Machtwechsel bevor: Am 13. März wird hier das Parlament (Abgeordnetenhaus und Senat) neu gewählt, am 29. Mai findet der erste Wahlgang zu den Präsidentschaftswahlen statt. Zwar werden die Präsidentschaftskandidat*innen der unterschiedlichen Wahlbündnisse offiziell erst am 13. März nominiert. Aber in den landesweiten Umfragen führt schon lange der linke Kandidat Gustavo Petro mit seinem Bündnis Pacto Histórico. Das Bündnis setzt sich aus linken, sozialdemokratischen, indigenen und bewegungsnahen Parteien zusammen. Petro repräsentiert in diesem als Vorsitzender der Partei Colombia Humana eine linke Sozialdemokratie. Sollte er tatsächlich gewinnen, wäre er der erste linke Präsident in der Geschichte Kolumbiens – das wäre in der Tat historisch. Bei einem Sieg könnte zudem die Umweltaktivist*in und Stimme der emanzipatorischen Linken in dem Bündnis, Francia Márquez, die erste schwarze Vizepräsidentin Kolumbiens werden.

Petro verfolgt eine linke sozialdemokratische Reformagenda, die vor allem auf Umverteilung und soziale Sicherung, Frieden und sozialökologische Transformation setzt. Bereits das aber wäre für ein Land, das politisch und ökonomisch seit Jahrzehnten der neoliberalen Doktrin folgt und dessen Gesellschaft mit die höchsten Ungleichheitswerte in der Region aufweist, geradezu eine Revolution. Konkrete Vorhaben sind eine Steuerreform, um die Vermögenden und Großgrundbesitzer stärker zu belasten. Die unter der aktuellen Regierung Duque im Frühjahr 2021 angekündigte Steuerreform, die die unteren Einkommensschichten stärker belastet hätte, war einer der Auslöser der monatelangen sozialen Proteste im vergangenen Jahr.

Zugleich plant Petro die sozialen Ausgaben zu erhöhen und den Verteidigungsetat zu kürzen sowie eine stärkere öffentliche Kontrolle der privatisierten Sicherungssysteme, allen voran des Gesundheits- und Rentensystems. Ein zentrales und ambitioniertes Ziel ist der Umbau der Wirtschaft, um Kolumbiens Abhängigkeit von der Drogenökonomie, Rohstoffrenten und dem Finanzsektor zu brechen. Klima- und Biodiversitätsschutz sollen stärker gefördert und der Friedensprozess wiederbelebt werden.

Derzeit ist der Wahlausgang trotz der bislang eindeutigen Umfragen weiter offen. Neben dem Bündnis Historischer Pakt kämpfen zwei weitere Parteienbündnisse und eine Reihe unabhängiger Kandidat*innen um den Einzug in die Casa de Nariño, den kolumbianischen Präsidentenpalast. Die Coalición Centro Esperanza (Bündnis Zentrum Hoffnung) vereint liberale Kräfte der politischen Mitte. Sie tritt als Alternative zu „Links“ und „Rechts“ an und verspricht einen moderaten politischen Wandel. Interne Querelen und Umfragewerte von zuletzt nur knapp über 12 Prozent lassen jedoch vermuten, dass das Bündnis kaum eine Chance haben wird, die Stichwahl zu erreichen.

Im dritten Wahlbündnis Equipo por Colombia (Team für Kolumbien) vereinigt sich Kolumbiens traditionelle konservative Rechte. Zwar sprachen sich in den jüngsten Umfragen nur knapp 15 Prozent für dieses Bündnis aus. Das sagt aber noch nicht viel, verfügt die traditionelle Rechte doch über starke klientelistische Beziehungen und eine breite Machtbasis in den ländlichen Regionen, den evangelikalen Kirchengemeinden und der Oberschicht. Diese Wählergruppen würden Petro in einer Stichwahl mehrheitlich ihre Stimme verweigern.

Offen ist zudem, wen die extreme Rechte um deren Symbolfigur, den Expräsidenten Álvaro Uribe, und dessen Partei Centro Democrático (CD) unterstützen wird. Möglich wäre, dass es zu einem Bündnis mit Rudolfo Hernández kommt. Der 76jährige ist ehemaliger Bürgermeister der Stadt Bucaramanga, Bauunternehmer und Millionär. Er präsentiert sich als „Außenseiter“, als Technokrat mit weißer Weste, der Korruption effektiv bekämpft und nicht dem politischen Establishment angehört. Einige Beobachter*innen bezeichnen ihn als „Trump Kolumbiens“. Hernández‘ Populismus kommt gerade bei den unentschlossenen Wähler*innen an: In den Umfragen liegt er derzeit, wenn auch mit deutlichem Abstand, bereits an zweiter Stelle hinter dem Pacto Histórico.

Vor allem eine Stichwahl könnte dem Linksbündnis zum Verhängnis werden. Denn Petro ist der Rechten ein Dorn im Auge. Doch auch in der Linken ist er aufgrund seiner polarisierenden und teils populistischen Rhetorik nicht unumstritten. Petro war Mitglied der Guerilla-Gruppe M-19, saß lange für die linke Partei Polo Demóctratico im Unterhaus des Kongresses, später im Senat. Von 2012 bis 2015 war er Bürgermeister von Bogotá. Er will die Macht der Drogenkartelle brechen – eine Herkules-Aufgabe. Käme es zu einer Stichwahl, würde die politische Rechte alle Kräfte mobilisieren, um ihn zu verhindern – egal, wer gegen ihn antritt.

Auch deshalb setzt Petro auf einen Sieg im ersten Wahlgang. Den könnte er jedoch nur mit absoluter Mehrheit erlangen. Damit es dazu kommt, sucht Petro auch Verbündete im Mitte-Rechts Lager, etwa Luis Pérez, den ehemaligen Gouverneur der Provinz Antioquia, eine Hochburg der Uribisten und Ursprungsregion des kolumbianischen Paramilitarismus. Pérez könnte Petro hier wichtige Stimmen einbringen. Die Frage ist: zu welchem Preis? Dem Pacto nahestehende Beobachter*innen betonen, dass solche Allianzen nicht ohne Zugeständnisse erfolgen und mithin eine Gefahr für das linke Projekt bedeuten. Vielmehr gelte es stattdessen, Stimmen im großen Lager der Unentschlossenen und Nichtwähler*innen, der Jungen und politisch bisher Ausgeschlossenen zu mobilisieren, ähnlich wie es Boric in Chile gelungen ist.

Brasilien: Bolsonaro vor der Abwahl?

Und schließlich stehen auch in Brasilien, wo im Oktober ein neuer Präsident gewählt wird, die Zeichen auf eine Linkswende. Dort werden sich, so viel steht jetzt schon fest, der frühere sozialdemokratische Präsident Luiz Inázio Lula da Silva, der das Land von 2003 bis 2011 regierte, und der rechtsextreme Amtsinhaber Jair Messias Bolsonaro ein Duell liefern, in der brasilianischen Öffentlichkeit kurz mit „Lula vs Bolsonaro“ oder „Demokratie vs Faschismus“ betitelt. Zur Erinnerung: Bei der Präsidentschaftswahl im Oktober 2018 hatte die Arbeiterpartei PT ebenfalls auf Lula gesetzt; dessen Kandidatur jedoch wurde nach monatelangem Ringen neun Wochen vor der ersten Abstimmung vom Obersten Wahlgericht wegen Korruptionsvorwürfen (die sich Mitte 2019 als weitgehend haltlos herausstellten) für ungültig erklärt und Lula später unter Hausarrest gestellt. Der damals kurzfristig angetretene Alternativ-Kandidat der PT, Fernando Haddad, verlor im zweiten Wahlgang mit 45 zu 55 Prozent der Stimmen gegen Bolsonaro.

Die politische Bilanz der Regierung Bolsonaro ist in jeder Hinsicht katastrophal. In Brasilien sind nach offiziellen Angaben 630 000 Menschen an oder mit Corona gestorben[3], das ist nach den USA die weltweit höchste Zahl. Das gesellschaftliche Trauma ist entsprechend groß. Politisch sind die Regierung und der Präsident stark angeschlagen. Bolsonaro, der vor vier Jahren als Verteidiger der Militärdiktatur in Brasilien (1964-1985) angetreten war, wird heute politisches Missmanagement und Korruption in der Pandemie vorgeworfen. In drei Jahren hat er drei Gesundheitsminister gefeuert, ein vierter hat selbst den Hut genommen. Eine Reihe von Amtsenthebungsverfahren wurde gegen ihn initiiert, er selbst drohte mehrfach der Judikativen und anderen staatlichen Institutionen. Mitglieder seiner Familie sind in Korruptionsermittlungen verwickelt. Obendrein steckt die Wirtschaft in einer schweren Krise. Armut, Hunger, Inflation und Arbeitslosigkeit sind in einem Ausmaß zurückgekehrt, wie viele es nach den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs unter Lula zu Beginn der 2000er Jahre nicht mehr für möglich gehalten hätten. Die aktuelle gemeinsame Agenda von parlamentarischer Linker, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften sowie breiter Strömungen der politischen Mitte lautet daher ganz klar: „Fora Bolsonaro“ (Weg mit Bolsonaro).

Seit nunmehr zwei Jahren mobilisiert ein breites Bündnis, bestehend vor allem aus städtischen Bewegungen wie der Obdachlosenbewegungen, der queer-feministischen Bewegung, der Studierenden- und Schwarzenbewegung sowie den Gewerkschaften und der Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) Anti-Bolsonaro-Proteste. Im Zentrum stehen soziale Themen wie Wohnen, Hunger und Arbeit, aber auch die Erosion der Demokratie unter Bolsonaro, sein Anti-Feminismus und Rassismus. Auf der weit verbreiteten Anti-Bolsonaro Stimmung im Land gründet auch die parlamentarische Linke ihren Wahlkampf. Ähnlich wie Petro in Kolumbien geht sie strategische Bündnisse ein, die mitunter weit in das Mitte-Rechts-Lager reichen. Dabei wird Lula im Wahlkampf als derjenige inszeniert, der Bolsonaro aus dem Amt fegen wird. Er selbst inszeniert sich als staatsmännisch, als Großvater, der seine Familie – die arme Bevölkerung – nicht im Stich lässt, als Krisenmanager, als Demokrat mit internationalem Profil, als einer, der Ausbeutung und Arbeitslosigkeit beendet. Gleichzeitig aber möchte er Unternehmen, die im Land investieren wollen, nicht verschrecken. Inhaltlich lässt sich viel Kontinuität zu seinen ersten beiden Amtszeiten von 2003 bis 2011 erkennen: Es geht klassisch sozialdemokratisch um sozialen Aufstieg und gesellschaftliche Teilhabe für alle, eine höhere Konsumbeteiligung und die Formalisierung der Arbeit. Ökologischen Fragen spielen dabei eine eher untergeoordnete Rolle. Zwar ist Lulas politische Basis heute deutlich heterogener und pluralistischer als noch Anfang der 2000er Jahre. Im Wahlkampf verschwindet dieser Pluralismus jedoch zunehmend hinter dem Kandidaten, was aber offenbar strategisch von den Bewegungen in Kauf genommen wird. Wenn sich an den bislang eindeutigen Umfragewerten nichts ändert und Lula nichts Gravierendes zustößt, das seine Kandidatur verhindert, könnte er im Oktober mit einer absoluten Mehrheit im ersten Wahlkampf die Wahlen gewinnen.

Eine Linkswende jenseits des progresismo?

Eine Herausforderung, die sich für Gabriel Boric in Chile und möglicherweise für Gustavo Petro in Kolumbien und Lula da Silva in Brasilien bei der Umsetzung ihrer Reformagenden stellt, besteht darin, aus den Schwächen und Fehlern der früheren progressiven Regierungen zu lernen. Diese übernahmen, beginnend mit dem Wahlsieg von Hugo Chávez in Venezuela, ab Ende 1998 in vielen Ländern Südamerikas – in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Ecuador, Uruguay und Paraguay – bis Mitte der 2000er Jahre die Staatsmacht.[4]

Erstens vertraten Präsidenten wie Evo Morales in Bolivien oder Rafael Correa in Ecuador ein eher konservatives bis machistisches Gesellschaftsbild. Feministische Anliegen hatten es unter ihrer Regentschaft schwer. Auch indigene Rechte wurden nur in Ansätzen gestärkt und Umweltschutz den „Entwicklungserfordernissen“ unterworfen.

Zweitens dominierte in den meisten Mitte-Links-Regierungen der ersten Welle eine traditionslinke Vorstellung, dass die Gesellschaft mit der Übernahme der Regierungsmacht gleichsam „von oben“ umgebaut werden könnte. Gestützt wurde das durch die Symbiose eines in Lateinamerika traditionellen Caudillismo, also eines auf einen „starken“ Führer ausgerichteten Systemspolitischer Macht, und eines institutionell verankerten Hyperpräsidentialismus. Unterschätzt wurde dabei aber die Persistenz der Kolonialität der Staatsapparate. Kritische Stimmen betonen immer wieder: Die Regierungsmacht innezuhaben, bedeute noch nicht, den Staat zu beherrschen und über ihn die Gesellschaft steuernd umbauen zu können. Eine solche Perspektive erliege der Illusion einer mehr oder weniger rationalen und loyalen Staatsbürokratie, die sich an die Vorgaben der politischen Führung hält.[5] Damit aber wurden die klientelistischen Staatsstrukturen genauso missachtet wie deren enge Verflechtungen mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Eliten und transnationalen Kapitalgruppen sowie die ihnen strukturell inhärente Korruption.

Dieses traditionelle Staatsverständnis führte fatalerweise dazu, dass sich die Mitte-Links-Regierungen die Kritik sozialer Bewegungen, aus der Wissenschaft, aber auch aus den Reihen der eigenen politischen Parteien an ihrer Politik verbaten. Das ging mitunter so weit, dass sie die Bewegungen kriminalisierten anstatt die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und Diskurse im Bündnis mit ihnen nach links zu verschieben. Vielmehr hielten die „progressiven“ Regierungen an den traditionellen Vorstellungen von „Fortschritt“, „Wachstum“ und der Auffassung, die Natur sei eine auszubeutende Ressource, fest. Wer diese „entwicklungsfreundlichen“ Orientierungen kritisierte, wurde im populistisches „schwarz-weiß“-Denken der Regierenden schnell zum Gegner. Das betraf immer wieder feministische, ökologische oder auf die Verteidigung indigener Rechte und Territorien zielende sozialen Bewegungen. Die Regierungen denunzierten ökologische Anliegen dabei nicht selten als „von ausländischen Kräften gesteuert“ und propagierten zugleich, das Erdöl müsse „bis auf den letzten Tropfen“ gefördert und die ökologischen Folgen – die kleingeredet wurden – als Kollateralschaden akzeptiert werden.

Je deutlicher die Kritik an dieser Politik formuliert wurde, desto mehr setzten „progressive“ Staats- und Parteiführer wie Chávez, Morales und Correa auf leninistische Organisationsprinzipien.

Die heutige Situation in Lateinamerika lässt sich in wichtigen Punkten durchaus mit der Konstellation vergleichen, die vor 20 Jahren den „progressiven Zyklus“ einleitete. Wie damals profitieren die linken Kräfte auch heute in vielen Ländern von einer Erschöpfung der neoliberalen Politik und ihrer Unfähigkeit, soziale und ökonomische Krisen zu bewältigen. Heute wird werden diese Krisen zusätzlich von der Pandemie überformt und verstärkt. Dabei sind in den vergangenen Jahren vielfältige antineoliberale soziale Bewegungen entstanden, die eine entscheidende Bedingung für den Erfolg linker Politiker bilden.

Und dennoch: Mit Blick auf die Entwicklungen in Chile, das pluralistische Wahlbündnis Pacto Histórico in Kolumbien und die breiten emanzipatorischen Bewegungen, die Lula in Brasilien unterstützen, wäre es verfehlt, eine Neuauflage des damaligen „progressiven Zyklus“ zu erwarten – auch wenn die historischen und aktuellen „progressiven“ Regierungen (wie in Bolivien unter Luis Arce in der Nachfolge von Evo Morales) von den heutigen politischen Akteuren durchaus positiv gesehen werden.

Wir gehen davon aus, dass es sich in Chile und möglicherweise in einigen Monaten in Kolumbien um eine qualitativ neue Konstellation handelt und nicht um eine Wiederauflage des „progressiven Zyklus“, dem die beiden Länder ohnehin nicht angehörten. Das hängt zum einen mit den Verwerfungen der Corona-Pandemie zusammen, wobei sich diese sehr unterschiedlich auf die Fähigkeit zur sozialen Mobilisierung auswirkte: Während sie die Bewegung in Chile eher schwächte, wirkte sie in Kolumbien wie ein Brandbeschleuniger und führte zu stärkeren und radikaleren Protesten.

Viele Menschen erleben derzeit hautnah, dass sich privatisierte Gesundheitssysteme für die Bearbeitung einer Pandemie schlechter eignen als gut ausgestatte öffentliche Gesundheitswesen, die es in Lateinamerika kaum gibt.[6] Darüber hinaus zeigt sich in der Pandemie, wie sehr die patriarchalen Geschlechterverhältnisse Ungleichheit erzeugen und verstetigen.[7] Damit bieten sich Möglichkeiten für strukturelle Sozialreformen, die von breiten Mehrheiten befürwortet werden, von den vergangenen „progressiven“ Regierungen aber nie angegangen wurden.

Zum anderen decken die sozialen Bewegungen und die politische Linke heute ein viel breiteres Spektrum an Themen ab als noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die heutigen Bewegungen politisieren vielfache Unterdrückungslinien, verbinden Stadt und Land. Sie sind jünger, feministischer, queerer, indigener, emanzipatorischer, afro-lateinamerikanischer und ökologischer geworden. Insbesondere die jüngeren Generationen, die etwa in Chile die Militärdiktatur nicht miterlebten, und die feministischen Bewegungen spielen eine zentrale Rolle.

Lateinamerika vor einem neuen, grünen Extraktivismus?

Die härteste Nuss, die von den neuen Regierungen nur schwerlich zu knacken sein wird, ist die Reduzierung der extremen sozialen Ungleichheiten bei einem gleichzeitig angestrebten Umbau der politischen Ökonomien der Länder. Diese basieren primär auf Ressourcen-Extraktivismus, also einer für den Verkauf auf dem Weltmarkt vorgenommene Ausbeutung fossiler, agrarischer, mineralischer und metallischer Rohstoffe und von Wäldern, die mit Monokulturen, einer Übernutzung von Land und der Zerstörung biologischer Vielfalt einhergeht.[8]

Gerade unter sich verändernden Weltmarktbedingungen, nämlich einer steigenden globalen Nachfrage nach Rohstoffen, die die Preise in die Höhe treibt, gewinnen auch „progressive“ und linke Regierungen einen größeren verteilungspolitischen Handlungsspielraum. Bereits während der letzten Phase des Rohstoffbooms (von etwa 2003– bis 2014) haben sie diese hohen Einnahmen genutzt, um Ressourcen auch an die Ärmeren zu verteilen oder Infrastrukturen auszubauen; Alternativen zum vom Weltmarkt abhängigen und naturzerstörerischen Wirtschafts- und Entwicklungsmodell haben sie dabei jedoch nicht vorangetrieben und auch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse kaum verschoben.

Genau das aber wäre der qualitative Unterschied zwischen einer „nur“ progressiven und einer wirklich linken, emanzipatorischen Politik. Letztere würde ernsthafte Initiativen für einen sozialökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft starten. Dazu bedarf es einer Veränderung von Eigentums- und Machtverhältnissen, gesellschaftlicher Mobilisierung und Ermächtigung sowie einer Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Linke Regierungen müssten sich endlich der „lateinamerikanischen Paradoxie“ stellen, die sich daraus ergibt, dass sie gerade bei relativ günstigen Weltmarktbedingungen durch ein zerstörerisches und herrschaftliches Wirtschaftsmodell an der Macht gehalten werden, weil sie durch die Umverteilung der Einnahmen aus dem Rohstoffexport den legitimen sozialen Ansprüchen der Bevölkerungsmehrheiten genügen können. Andererseits aber vertiefen sie dadurch das extraktivistische Wirtschaftsmodell anstatt es grundlegend zu transformieren und verpfänden damit die Lebensbedingungen und ökonomischen Spielräume künftiger Generationen für kurzfristige politische Ziele.

Diese Paradoxie ist gerade in Chile derzeit stark politisiert und drückt sich etwa dadurch aus, dass in der neuen Verfassung die Rechte der Natur festgeschrieben werden sollen. Chiles Wirtschaft und Staatshaushalt hängen in hohem Maße vom Extraktivismus und den Rohstoffrenten ab – nicht zuletzt dank der gewaltigen Kupfer- und Lithiumvorkommen im Land, beides Schlüsselrohstoffe für den Ausbau der Elektromobilität. Während des letzten Rohstoffbooms Anfang der 2000er Jahre kamen fast 30 Prozent aller Staatseinnahmen aus diesem Sektor.[9] Und diese Abhängigkeit wird sich in Zukunft vermutlich kaum reduzieren. Denn seit Ende 2020 verteuern sich die in Preisindizes zusammengefassten Rohstoffarten erneut: Das betrifft Industriemetalle wie Kupfer, Nickel und Zinn, Edelmetalle wie Gold und Silber sowie Agrar- und Energierohstoffe. Der Preis für eine Tonne Kupfer liegt derzeit beispielsweise bei etwa 9900 US-Dollar und damit so hoch wie seit Jahren nicht mehr. In der Hochphase des Rohstoffbooms vor etwa zehn Jahren, kostete eine Tonne Kupfer im Jahresschnitt dagegen „nur“ 5900 US-Dollar.[10] Das zeigt, dass die globalen Rahmenbedingungen für eine Perpetuierung des extraktivistischen Modells zumindest für Chile „besser“ denn je sind.

Die Gründe für den aktuellen Preisanstieg sind die erneut steigende Nachfrage nach Industrierohstoffen in China und den westlichen Industrieländern sowie die Erwartung eines Wachstumsbooms nach der Pandemie. Aber auch die Konjunkturprogramme der EU und der EU-Staaten sowie der USA treiben die Preise für Metalle wie Kupfer in die Höhe. Entsprechend prognostiziert die Internationale Energieagentur (IEA), dass sich die Nachfrage nach Lithium bis 2040 um das 43fache und nach Kupfer um das 28fache im Vergleich zu 2020 erhöhen wird.[11]

Möglicherweise begründen also die steigende Nachfrage nach Rohstoffen für die „alte“ Wirtschaft sowie der „grüne“ Umbau der Wirtschaft in den drei kapitalistischen Weltzentren China, USA und EU nun einen neuen Superzyklus und in Lateinamerika eine Phase des „grünen“ Extraktivismus.[12] Denn zunehmend liegt der Fokus auf jenen „Schmierstoffen“, die eine grüne, elektrifizierte High-Tech-Wirtschaft antreiben. Von diesen besitzen Chile, Bolivien, Argentinien, Kolumbien und Brasilien eine Menge.

Gegen diese neue Art der „Akkumulation durch Dekarbonisierung“ formiert sich, insbesondere an den Orten der Rohstoffextraktion, vielfältiger Widerstand. Denn schon jetzt ist absehbar, dass für den „grünen“ Umbau der kapitalistischen Zentren die Lebensbedingungen bäuerlicher und indigener Bevölkerungsteile, aber auch wichtige Süßwasserreserven und einzigartige Ökosysteme sowie die Biodiversität in Lateinamerika geopfert werden.

Die große Herausforderung lateinamerikanischer Linksregierungen in den 2020er Jahren wird es somit sein, die auf die Rohstoffausbeutung ausgerichtete Wirtschaft just in einem Moment umzubauen, in dem massive internationale Investitionen in diesen Sektor und hohe Einnahmen für die Staatshaushalt locken, die vor dem Hintergrund der dramatischen sozialen und wirtschaftlichen Lage in der Region zugleich dringend benötigt werden.

Der Wegfall dieser Investitionen sowie abnehmende Exporteinnahmen würden dagegen kurzfristig eine Wirtschaftskrise verursachen. Um dem entgegenzuwirken, müssten die neuen Linksregierungen auf eine Besteuerung der Vermögen und höhere Steuern für Reiche insgesamt setzen. Die Einführung von Vermögenssteuern und progressive Steuerreformen sind in den linken Wahlprogrammen durchaus Thema, allerdings ist hier mit viel rechtem Gegenwind zu rechnen.

Alternativvorschläge zielen zudem darauf ab, das Lithium nicht nur einfach zu nationalisieren und selbst zu industrialisieren mit dem Ziel, die Wertschöpfung im Land zu erhöhen, sondern es für einen strukturellen Umbau von Energie- und Mobilitätssystemen in Lateinamerika zu nutzen, anstelle eines weiteren ökologisch ungleichen Tauschs für die Nachhaltigkeit andernorts.[13]

Entscheidend ist, dass sich die hochgradig internationalisierten Voraussetzungen des extraktivistischen Modells eben nicht nur auf der nationalen oder regionalen Ebene verändern lassen, sondern nur im globalen Zusammenspiel. Hier liegt eine zentrale Aufgabe internationalistischer Politik. Das gilt umso mehr, als der aktuelle Rohstoffbooms auch vom „grünen Umbau“ der Wirtschaften des globalen Nordens herrührt.


[1] Pierina Ferretti, El pueblo llegó para quedarse, www.jacobinlat.com., 4.1.2022.

[2] Sophia Boddenberg, Chile: Unaufhaltsam in den Umbruch? in „Blätter“, 11/2021, S. 27-30.

[3] Stand Anfang Februar 2022.

[4] Vgl. Ulrich Brand, Lateinamerikas Linke. Ende des progressiven Zyklus?, Hamburg 2016.

[5] Vgl. etwa Klaus Meschkat, Krisen progressiver Regierungen. Eine Flugschrift, Hamburg 2020, S. 83ff.

[6] Kristina Dietz, Stefan Peters und Christina Schnepel (Hg.), Corona in Lateinamerika, Baden-Baden 2022.

[7] Caroline Kim, Sorge im Zentrum: Die Folgen der Corona-Krise in Lateinamerika aus Geschlechterperspektive, in: Dietz u.a., Corona in Lateinamerika, a.a.O., S. 73-87.

[8] Vgl. Maristella Svampa, Die Grenzen der Rohstoffausbeutung. Umweltkonflikte und ökoterritoriale Wende in Lateinamerika, Bielefeld 2020.

[9] CEPAL, a.a.O.

[10] Vgl. die Preisangaben auf www.boerse.de.

[11] International Energy Agency, The Role of Critical Minerals in Clean Energy Transition. World Energy Outlook Special Report 2021, www.iea.org

[12] Ana Isla, “Greening”, the Highest Stage of Extractivism in Latin America, in: Leigh Brownhill u.a. (Hg.), The Routledge Handbook on Ecosocialism, London 2021, S. 67-80.

[13] Vgl. etwa For a social, ecological, economic and intercultural pact for Latin America, www.pactoecosocialdelsur.com.Erscheint in „Blätter für deutsche und internationale Politik“, März 2022

Der Beitrag erscheint in „Blätter für deutsche und internationale Politik“, März 2022